Kölsche Naachschicht – mein erster 75km Lauf!

Nachdem ich im Mai beim 4desert Race in Namibia war, gab es die Idee, dass die Leute aus dem ‚Little Desert Runners Club‘ sich noch einmal treffen. Der LDRC ist kein Verein mit irgendeiner Struktur, sondern eigentlich eine Facebook Seite, auf der Rafael sein reichhaltiges Wissen und seine Erfahrung in Bezug auf Etappenrennen mit anderen teilt.

Auch wenn wir hier frisch aussehen, es ist nach dem Zieleinlauf: Dörte, Rafael, Ute und Ulrike

Vor einigen Wochen schlug Ute, seine Frau, vor, dass wir uns zu einem Rennen in Köln treffen könnten und wir entschieden uns, für das 75 Kilometer Nachtrennen zu melden. Das gefiel mir besonders gut, denn in Namibia bin ich vor der Nachtetappe raus und hatte das Gefühl, dass ich das gerne nochmal machen würde.

Der Kölnpfad ist ein Wanderweg in und um Köln herum, 2008 eingeweiht und im selben Jahr bereits als besonders schöner Weg prämiert. Neben unserem 75km Rennen gab es auch noch die ganze Runde über 171 km, 110 km und eine Staffel.

Da der Weg zu 95% ausgeschildert ist, sind die restlichen 5% etwas erratisch zu finden. Dann das Ganze noch nachts. Also lud ich vor der Abfahrt Kartenmaterial auf das Wander-GPS und lieh mir von Vereinskollegin Silke ein Zelt um am Morgen nach der Ankunft evtl. noch schlafen zu können bis Uwe kam um mich abzuholen und fuhr mit der Bahn nach Deutz, wo mich Martina, die ich auch aus Namibia kenne, abholte. Übernächtigt wollte ich am Sonntag kein Auto fahren.

Das Ziel befand sich im Ortsteil Thielenbruch, mit einem Bus wurden wir zum Startpunkt in Köln Porz gefahren, direkt am Rhein gelegen. Um 20 Uhr startete das Feld von 50 Teilnehmern, darunter nur ein Dutzend Frauen. Es hatte den ganzen Tag geregnet, die Vorhersage verhieß jedoch eine trockene Nacht und tatsächlich liefen wir nur die ersten 20 min im Regen, danach konnten die Jacken weggepackt werden. Pflichtausrüstung waren ein Dreiviertelliter Wasser, Handy und Stirnlampe und ich hatte einen kleinen Rucksack dabei. Die ersten Kilometer ging es am Rheinufer entlang nach Süden, ich lief mit ca. 7:05/km ganz ruhig vor mich hin und schloss mich Ute und Rafael an, die dasselbe Tempo liefen. Nach wenigen Kilometern kam noch Ulrike hinzu, die bisher wie ich die letzten beiden Berlin Marathons absolviert hat und wie ich erstmalig über 75 km startete. Länger als 42 km bin ich zuvor am Stück nie gelaufen.

Zwei Fahrradfahrer begleiteten uns, zwischenzeitlich kamen auch noch zwei andere Läufer hinzu, wir unterhielten uns entspannt und als wir vom Fluss abbogen und durch kleine Siedlungen und Felder liefen verging die Zeit ganz mühelos. Es wurde dämmrig und die Sonne versank hinter den reifen Weizenfeldern und tauchte die Landschaft in ein warmes Licht. Rafael, dessen neues Buch in zwei Wochen rauskommt, beichtete mir, dass mein Name darin einmal falsch geschrieben sei und ich scherzte, dass er ja wisse, dass ich ihm jetzt eine Armada von Rechtsanwälten auf den Hals hetzen würde und wir amüsierten uns königlich und dann beichtete ich ihm, dass ich ihm noch 6.- schulden würde, was er aber nicht wisse, aber bei seinem Vortrag vor zwei Jahren in Mülheim, auf dem wir uns kennen lernten, kam ich ohne Portemonnaie und erfuhr erst vor Ort, dass es 6,- Eintritt kosten solle. Ich wusste das nicht und war nur mit dem Hausschlüssel bewaffnet losgezogen und die freundliche Frau an der Kasse ließ mich trotzdem rein. Er quittierte dies mit einem Lachen, also sind wir da wohl quitt ☺

Nach 22,5 km erreichten wir im Dunkeln gegen 22:40 Uhr den ersten Verpflegungspunkt auf einem Supermarktparkplatz und fanden ein reichhaltiges Buffet vor. Heiße und kalte Getränke, jede Menge zu essen, salzig, süß, Obst, Suppe, alles dabei. Unglaublich freundliche und unterstützende Helfer und einfach eine großartige Atmosphäre. Ich aß ein paar Apfelschnitze und Cracker, stürzte eine Flasche Faßbrause hinunter und ließ mein Wasser auffüllen, dann ging es weiter. Wir liefen am Köln Bonner Flughafen vorbei in die Wahner Heide. Zum Glück hatten wir unsere navigierenden Fahrradbegleiter! Die Beschilderung des Kölnpfades erfolgt über winzige Schilder und wir leuchteten mit unseren Lampen in den Wald um immer wieder nach dem weißen Kringel auf schwarzem Quadrat Ausschau zu halten. Da wir zu mehreren waren und das Finden des korrekten Weges auf unsere Fahrradbegleitung verlagern konnten, liefen wir nur selten und wenn kurz in die falsche Richtung.

Nach der Wahner Heide ging es sofort weiter in den Königsforst. Der Regen hatte Feuchtigkeit auf den Bäumen und Blättern hinterlassen, die Luft war frisch und sauber, die Temperatur mit ca. 15°C zum Laufen sehr angenehm. Allerdings kamen jetzt auch mal Steigungen hinzu und auf dem Weg hoch zum ‚höchsten Berg Kölns‘ Monte Troodelöh (118m) fiel ich vom Laufen ins Marschieren. Rafael bot mir an, bei mir zu bleiben und Ute und Ulrike alleine vorlaufen zu lassen, aber ich schloss mit ihm wieder zu den beiden auf als die sich ins Gipfelbuch eintrugen. So vergingen die Stunden bis wir Bensberg und dort um 1:15 und nach 17 km den nächsten Verpflegungspunkt erreichten, der in der Nähe des Schlosses in der vollkommen menschenleeren Innenstadt lag. Auch hier wurden wir mit einem üppigen Angebot an Getränken und Verpflegung und jeder Menge anfeuernder und ermutigender Worte körperlich und mental aufgepäppelt.

Danach ging es mit nur noch einer Fahrradbegleitung und zu viert (Ute, Rafael, Ulrike und ich) weiter. Hinter Bensberg setzte sich die hügelige Landschaft fort  und es ging immer etwas rauf und runter und langsam merkte ich die gelaufenen Stunden doch physisch. Aber die gute Gemeinschaft und die Magie des nächtlichen Waldes sorgten dafür, dass ich nicht zu viel Energie darein setzte, nach Sachen Ausschau zu halten, die mich stören. Plötzlich gab es jede Menge Bewegung im Gebüsch neben dem Pfad und unwilliges Gegrunze. Eine Rotte Wildschweine! Sofort verlangsamten wir das Tempo und zogen ruhig weiter. Gelegentlich sahen wir eine Maus über den Weg huschen oder einen Frosch, der hüpfend Zuflucht im üppigen Grün suchte, oder hörten ein Käuzchen. Sonst gab es nur das Rauschen des leichten Windes in den Bäumen und unseren Atem. Wir sprachen wenig und jeder und jede konzentrierte sich auf das Laufen. Dann bogen wir auf eine Landstraße und liefen sie ein Stück entlang. Ein Taxifahrer guckte entgeistert und verlangsamte die Fahrt, wahrscheinlich hielt er uns für potenzielle Kunden. Aber schon bogen wir in einen schmalen Pfad ab und liefen zwischen Weiden und über einen Bauernhof. Im Stall brannte schon Licht und es roch nach frischer Milch. Und eine viertel Stunde später durchquerten wir ein Wohngebiet. Es erschien mir, als würden wir uns in einem Paralleluniversum bewegen, ganz dicht an der bekannten Welt und doch direkt daneben in etwas ganz eigenem. Wenige Meter an Häusern vorbeizulaufen, in denen Menschen schlafen, nicht ahnend, dass da draußen ein kleiner Trupp Läufer durch die Nacht fliegt, wach und mit allen Sinnen die Welt erkundend, war schon eine spezielle Vorstellung.

Als Vorbereitung auf den Lauf hatte ich neben dem normalen Pensum leider nur zwei längere Trainingseinheiten von 20 bzw. 27 km gemacht (und den HM in Gelsenkirchen, aber das war ja bereits im Mai), und mir war klar, dass die 75 km weit jenseits dessen liegen, was meinen bisherigen Erfahrungshorizont als Läuferin ausmacht. Daher hatte ich einige Tage vor dem Start eine Mentaltechnik angewandt und einen positiven Glaubenssatz geankert, den ich jetzt immerzu Mantra artig innerlich wiederholte. Und es funktionierte! Ich bekam immer wieder Abstand zu den Wahrnehmungen von Schwere in den Beinen und im Nacken (es war gar nicht der Rucksack, sondern mehr die Verspannung durch die angewinkelten Arme und das lokale Abkühlen des Schweißes, welches unangenehm war) und kam in einen Flow. Irgendwann waren wieder 16 km gelaufen und der letzte ‚echte‘ VP erreicht, danach würde nur noch an einer Stelle 10 km vor dem Ziel  Wasser an einem unbesetzten Punkt für uns bereit stehen. Auch an diesem VP gab es wieder ein großes Hallo zur Begrüßung und Unmengen zu Essen und Trinken. Irgendjemand hatte Rafaels Buch dabei und ließ es sich signieren, es wurde gelacht und gescherzt und niemand war müde. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. War es 4 Uhr?

Wir brachen auf, es war immer noch dunkel, aber man konnte ahnen, dass die Morgendämmerung kommen würde. Die Atmosphäre veränderte sich und irgendwann begannen die ersten Vögel zu singen. Ich war sehr froh mit den anderen zu laufen. Alleine wäre ich jetzt in ein Loch gefallen. So riss ich mich zusammen, rezitierte meinen Glaubenssatz und kam in einen unglaublichen Flow. Der Blick verengte sich auf den Weg unmittelbar vor mir, ich war mir meines Körpers und der Schwere meiner Beine und der Schmerzen im Nacken bewusst, aber es machte mir nichts aus. Der Flow und der Drang, darin zu bleiben waren stärker als das körperliche Missempfinden. Es war zu merken, dass auch die anderen müde wurden und nicht mehr ganz so rund liefen. Nach ca. 60 km Gesamtstrecke hörten wir auf zu laufen und gingen ins Marschieren über. Der Tag war nun da, leichter Nebel stieg im Wald auf, alles roch noch immer frisch und nach schwerer, feuchter Erde. Ich lief mit Ute vorneweg und wir unterhielten uns, Rafael und Ulrike folgten in einigem Abstand. Wir trafen einen Teilnehmer der 171 km, der vollkommen erschöpft war und meinte, er würde es nicht bis zur Zielzeit um 8:00 Uhr schaffen. Rafael motivierte ihn:‘Klar schaffst du das!‘ und später kam er tatsächlich um 07.45 an. Unser Gehtempo war zwar recht hoch, aber uns war klar, dass wir uns unseren Stundenschnitt versauen und insgesamt über 11 h brauchen würden. Egal. Zwischendurch hatten wir alle auch mal kurz Probleme mit dem Kreislauf, aber alles nicht dramatisch. Auf meinen Vorschlag liefen wir nochmal 2 km, dann war auch ich der Meinung, dass es reicht.

Plötzlich, bei Erreichen einer Straße, tauchten Pfeile auf und ‚Ziel‘. Wir wussten, dass wir für die letzten Kilometer vom Kölnpfad weggelotst würden um ins Ziel zu gelangen, die Bezirkssportanlage im Thuleweg in Thielenbruch. Das hob den Spirit! Ich ging jetzt vorneweg und zog die anderen mit. Ja, ich war erschöpft. Ja, ich wollte ankommen. Und ja, wenn nötig hätte ich noch Kraft für mehr Kilometer. Nicht unbedingt rennend, aber marschierend würde ich noch weiter durchhalten. Noch 1500 m, ein Stück durch ein Wohngebiet, kein Mensch so früh auf der Straße. Noch 700 m, durch ein kleines Wäldchen. Dann: da drüben ist es! Ich sah die Einfahrt und das Ziel. Ich wartete auf die anderen, wir fassten uns an den Händen und liefen gemeinsam und unter dem Riesenjubel der Wartenden ins Ziel! Dort fielen wir uns in die Arme und ich bedankte mich bei allen, dass sie mich so gut getragen haben und es so ein fantastisches Erlebnis mit ihnen war! Wir hatten 11h28 min benötigt, davon waren wir ca. 10h45 min in Bewegung, der Rest war Pause. Mein erster 75 km Lauf, das erste Mal länger als Marathon! Angekommen! Ich war megastolz!

Kein Zittern in den Beinen. Ich konnte mich hinsetzen und aufstehen ohne mich abzustützen. Whow! Die Pulsuhr schlug vor, jetzt 63 Stunden Pause zu machen. Gerne!

Ich ging duschen und setzte mich in den Aufenthaltsraum. Auf dem riesigen Tisch gab es – nicht überraschend – jede Menge zu Essen. Obst, Laugenbrezeln, Vollkornbrot, vegetarischer Brotaufstrich, Cracker, Riegel, Kuchen, alles! Ich trank einen Kaffee, Hunger verspürte ich nicht. Uwe kam um 8:30 Uhr. Da brauchte ich gar nicht das Zelt aufzubauen, welches mir Silke geliehen hatte. Aber da ich nicht wusste, wann ich ankomme und wann Uwe kommt um mich abzuholen, wollte ich die Möglichkeit haben, mich schlafen zu legen. Noch war ich total aufgekratzt und wach. Während der ganzen Nacht war ich nicht müde. Es war einfach zu viel los und zu viel Bewegung um müde werden zu können.

Antje Wensel, auch sie eine Gefährtin aus der Wüste, war die Strecke alleine gelaufen und kam jetzt auch ins Ziel. Sie hatte teilweise die Orientierung verloren und war dadurch 3,6 km mehr gelaufen (wäre ich alleine gewesen, hätte ich garantiert mehr Fehlkilometer produziert). Antje praktiziert etwas, was ich ‚Kampfwalken‘ nenne, sie walkt einfach in einem Wahnsinnstempo alles und jeden in Grund und Boden. Durch ein genetisch bedingtes Lipödem hat sie sehr viel Körpergewicht zu tragen und man traut ihr keinerlei sportlichen Aktivitäten zu, dabei ist sie eine der besten Athletinnen die ich kenne und ist beim 4deserts Race in die Top Ten gelaufen. Immer gut drauf, wahnsinnig fokussiert, herzlich und strahlend. Unfassbar!

Wir quatschten noch eine Runde mit Antje und fuhren zu einer Freundin nach Mönchengladbach zum Geburtstagsbrunch. Uwe ging von dort  mal gucken, was bei der Tour de France passierte, ich legte mich aufs Sofa und schlief eine Runde. Es ging mir gut!

Die Nacht darauf schlief ich 10 Stunden. Eine kurze Inventur meines Körpers am Montagmorgen ergab einen leichten Muskelkater (der nach dem letzten Marathon war schlimmer!), ein leichtes Ziehen in den Malleussehnen, einen sauren Nacken und eine Blase. Keine Gelenkbeschwerden.

Inzwischen ist Dienstag und ich habe eben in die Ergebnisliste geschaut. Von den zwölf gestarteten Frauen kamen neun ins Ziel. Der erste Platz bei den Frauen ging, wenig überraschend, an Kirsten Althoff, die bereits das Rennen in Namibia gewann (9h 33min), Martina Hesseling, die ebenfalls dabei war, ist auf Platz drei gelaufen (09h 46min). Dann gibt es eine Riesenlücke und dann drei vierte Plätze, für Ulrike, Ute und mich (11h28min)! Huch! Damit habe ich nicht gerechnet.

Keine Ahnung, ob ich sowas nochmal oder ab jetzt öfter mache. Es war ein außergewöhnliches Erlebnis und wie in Namibia wurde es durch zwei Dinge so einzigartig: Das Laufen durch und in der Natur und die Dynamik der Gruppe, das sich unterstützen, aufeinander achten und die Gemeinschaft.

Danke an die anderen drei für die gute Gesellschaft und an den Veranstalter, die tolle Organisation, die wahnsinnig freundlichen Helfer, das gute Essen – einfach alles!

Dörte Schreinert, 04.07.2017